Wien/Velden am Wörthersee (pts017/20.05.2016/11:45) – Fünf Milliarden Euro – so hoch ist der Betrag, den der Finanzminister den Österreicherinnen und Österreichern und im Rahmen der heuer wirksam gewordenen Steuerreform ersparen will. In etwa die gleiche Summe wird jährlich allein zur Behandlung von schmerzhaften Erkrankungen des Bewegungsapparates ausgegeben. Dabei sind sich Experten darüber einig, dass darin ein Einsparungspotential enthalten wäre, das durchaus zur Finanzierung einer weiteren Steuerreform reichen könnte. „Ein Großteil der Therapiekosten könnte eingespart werden, wenn wir ausreichend in Prävention und eine frühzeitige Behandlung von Schmerzen investieren, bevor diese chronifizieren und damit zur individuellen und volkswirtschaftlichen Last werden“, betonte anlässlich der Jahrestagung der Österreichischen Schmerzgesellschaft in Velden am Wörthersee ÖSG-Präsident OA Dr. Wolfgang Jaksch (Wien).
Laut Statistik Austria leiden allein 1,8 Millionen Österreicher und Österreicherinnen – und damit jeder Vierte – an anhaltenden oder wiederkehrenden Rückenschmerzen. Frühere Befragungen der ÖSG und Hochrechnungen aus internationalen Studien haben gezeigt, dass chronische Schmerzen, also Schmerzen, die länger als drei bis sechs Monate andauern, bei rund 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung auftreten.
Keine Daten gibt es hierzulande, wie viele Menschen an einer „Schmerzkrankheit“ leiden, das sind chronische Schmerzen mit assoziierten körperlichen, seelischen und sozialen Beeinträchtigungen und damit ein eigenständiges Krankheitsbild. Im österreichischen Gesundheitssystem ist es aber also solches nicht anerkannt.
„In Deutschland ist man hier einmal mehr viel weiter, die Schmerzkrankheit als solche wird von den Krankenkassen anerkannt“, berichtet Dr. Jaksch. „Eine aktuelle Untersuchung der Barmer Ersatzkasse zum Beispiel kommt zum Ergebnis, dass 3,8 Millionen Bundesbürger an einer Schmerzkrankheit leiden. Umgerechnet auf Österreich müssen wir somit von rund 350.000 Schmerzkranken im Sinn dieser Definition ausgehen, bei 1,5 Menschen mit Schmerzen besteht diesbezüglich ein hohes Risiko.“
Schmerzen kosten fünf Milliarden Euro
Aus guten Gründen sind sozioökonomische Aspekte von Schmerzen und ihrer Therapie ein Schwerpunktthema des diesjährigen ÖSG-Kongresses. Allein die direkten Kosten für die Behandlung chronischer Schmerzen in Österreich schätzen Experten auf Basis internationaler Daten auf jährlich bis zu 1,8 Milliarden Euro. Patienten mit chronischen Schmerzen bekommen im Durchschnitt 4,5 verschiedene Medikamente täglich verordnet, wie die Studie der deutschen Barmer GEK zeigt. Das sind 70 Prozent mehr als Patienten ohne chronische Schmerzen.
„Die Behandlungskosten machen allerdings nur ein Drittel der Gesamtkosten aus, die indirekten Folgekosten für Krankenstände, Frühpensionen und erhebliche Produktivitätsverluste liegen noch einmal doppelt so hoch“, rechnet der Generalsekretär der ÖSG und Tagungspräsident Prim. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar (Klagenfurt) vor. „Patienten mit starken chronischen Schmerzen haben ein sechsmal höheres Krankenstands-Risiko. Inzwischen sind dadurch bereits die Hälfte aller Krankenstandstage bedingt.“ In Summe bedeutet das einen Verlust von 660.000 Arbeitstagen pro Jahr.
In einer europaweiten Erhebung gaben 61 Prozent der Betroffenen an, dass der chronische Schmerz das Berufsleben unmittelbar beeinträchtige, 21 Prozent der Befragten waren auf Grund ihrer Erkrankung sogar arbeitsunfähig. In Österreich machen laut Erhebungen des Statistischen Zentralamts und der Pensionsversicherungsanstalten frühzeitige Pensionierungen aufgrund von Rückenschmerzen bei Erwerbstätigen rund ein Drittel der Frühpensionsantritte aus.
Bei Selbstständigen ist die Lage noch dramatischer: Dort geht bereits mehr als die Hälfte der Neuzugänge zur Erwerbsunfähigkeitspension auf Erkrankungen des Bewegungsapparates zurück. „Wenn man die Karriere vieler Schmerzpatienten durchleuchtet, muss es oberstes Ziel sein, bei Personen im erwerbsfähigen Alter eine Chronifizierung zu vermeiden, um sie im Erwerbsleben halten zu können“, fordert Prof. Likar.
Unzureichende Versorgungsangebote
25 Jahre nach Gründung der Österreichischen Schmerzgesellschaft zieht deren Präsident eine ernüchternde Bilanz, was die Versorgung und Betreuung chronischer Schmerzpatienten betrifft. „Trotz jahrelanger Bemühungen der ÖSG existiert in Österreich bis heute keine flächendeckende Schmerz-Versorgung, die international anerkannte Kriterien auch nur annähernd erfüllen würde“, so Dr. Jaksch. Schlimmer noch: „Statt die ohnehin bescheidenen Potenziale zu nutzen, wird leider weiter an der Schmerzmedizin selbst und damit an unseren Patientinnen und Patienten gespart. Diese Rotstiftpolitik bringt uns in unserem Versuch, eine patientenorientierte Schmerztherapie umzusetzen, immer mehr unter Druck. Neben vielen anderen Faktoren trägt die Reduktion der Wochenarbeitszeit und von Überstunden bei Spitalsärzten zu einer spürbaren Ressourcenverknappung bei.“
Umgelegt auf einen 40-Stunden-Betrieb stehe für die große Zahl chronisch Schmerzkranker in Österreich ein Äquivalent von nur noch 17,5 Schmerzambulanzen zur Verfügung, rechnet Prof. Likar vor: „Für unsere Patientinnen und Patienten bedeutet das, dass für drei Viertel keine ambulante Schmerztherapie angeboten wird. Um alle versorgen zu können, fehlen zumindest 50 vollzeitbetriebene Ambulanzen“. Bei unserem nördlichen Nachbarn geht der Trend in die entgegengesetzte Richtung, zeigt die Studie der GEK: Die Zahl der Krankenhäuser, die eine multimodale Schmerztherapie im Angebot haben, hat sich dort zwischen den Jahren 2006 und 2014 mehr als verdoppelt.
Die Ordinationen im niedergelassenen Bereich können die massiven strukturellen Defizite im österreichischen Spitalssektor nicht kompensieren: Zwar haben inzwischen mehr als 900 Ärzte und Ärztinnen ihre schmerztherapeutischen Kompetenzen mit dem Ärztekammer-Zusatzdiplom „Spezielle Schmerztherapie“ erweitert – allerdings wird der bei Patienten mit chronischen Schmerzen hohe zeitliche Aufwand für die Diagnostik und Therapie von den Krankenkassen nicht annähernd abgegolten.
„Ein großer Teil unserer chronischen Schmerzpatienten könnte bei Allgemeinmedizinern versorgt werden, wenn die Ausbildung die Schmerztherapie ausreichend berücksichtigt. Ein weiterer Teil könnte statt in Ambulanzen und Zentren auch gut von spezialisierten niedergelassenen Schmerztherapeuten behandelt werden“, zeigt ÖSG-Präsident Jaksch Verbesserungspotenziale auf. „In Deutschland können sich die Kolleginnen und Kollegen als Schmerzmediziner längst niederlassen und erhalten für diese Leistung auch eine vernünftige Abgeltung. Bei uns kann man das bestenfalls als Wahlarzt anbieten, doch dann werden sozial Benachteiligte von einer angemessenen Betreuung ausgeschlossen.“
Die Gesundheitspolitik müsse dem chronischen Schmerz endlich Priorität einräumen, fordert Dr. Jaksch. „Wir fordern unter anderem eine Verankerung der schmerzmedizinischen Versorgung im Österreichischen Strukturplan Gesundheit, wie man es etwa auch für die Palliativ- und Hospizversorgung gemacht hat.“ Davon sei man allerdings weit entfernt, kritisiert der Experte: „Allerdings fehlt es bei uns nicht nur an der entsprechenden Planung, sondern die Gesundheitspolitik hat nicht einmal einen Überblick, welche Ressourcen aktuell zur Verfügung stehen, wie kürzlich die Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage gezeigt hat.“
Teure Sparpolitik
Für die Betroffenen bedeutet die bestehende Unterversorgung meist langwierige und kostenintensive Odysseen durch das Medizinsystem. Laut dem Pain Proposal Patient Survey, einer 2010 durchgeführten europaweiten Erhebung, sucht ein Schmerzpatient durchschnittlich achtmal pro Jahr eine Arztpraxis auf. Bis zur Diagnosestellung dauert es durchschnittlich 1,7 Jahre. Bei etwa jedem Zehnten vergehen bis zu einer Diagnosestellung gar fünf bis zehn Jahre und mehr.
Und selbst dann ist eine Linderung der Leiden noch lange nicht garantiert: Nur 15 Prozent der Patienten erhalten nach der Diagnosestellung innerhalb von drei Monaten eine angemessene Therapie. Bei 20 Prozent vergeht bis zu einem Jahr, ein weiteres Fünftel muss zwischen einem und fünf Jahren auf die richtige Behandlung warten. 38 Prozent der Betroffenen erhalten gar keine adäquate Therapie.
Wohin das führt, haben Schmerzspezialisten inzwischen auch wissenschaftlich erhoben: Wie Studien zeigen, liegt die Wahrscheinlichkeit der Rückkehr an den Arbeitsplatz nach über sechs Monaten Arbeitsausfall nur noch bei 50 Prozent, nach einem Jahr kehrt gar nur noch jeder Fünfte ins Erwerbsleben zurück. In weiterer Folge geht die Wahrscheinlichkeit gegen null, so nicht entsprechend intensive Therapiemaßnahmen eingeleitet werden.
ÖSG-Tagungspräsident Prof. Likar fordert eine radikale Umkehr vom bisherigen Austeritätskurs: „Gerade in Zeiten von Sparbudgets sollte die Gesundheitspolitik sehr genau abwägen, wo knappe Ressourcen besonders sinnvoll eingesetzt werden. Sicher würde die Aufwertung der Schmerztherapie zunächst eine weitere Belastung für die Gesundheitsbudgets bedeutet. Dafür ließen sich aber noch deutlich höhere Kosten aufgrund von Produktivitätsverlusten und Arbeitsunfähigkeit einsparen.“
„Was wir brauchen“, spricht ÖSG-Präsident Jaksch Vorschläge für die Zukunft der schmerzmedizinischen Versorgung an, „ist eine strukturierte abgestufte Versorgung – vom Allgemeinmediziner und Facharzt über Schmerzambulanzen bis hin zu multidisziplinären Versorgungszentren und spezialisierten Reha-Einrichtungen.“
(Ende)
Aussender: B&K – Bettschart&Kofler Kommunikationsberatung Ansprechpartner: Dr. Birgit Kofler Tel.: +43-1-319 43 78 E-Mail: kofler@bkkommunikation.com Website: www.bkkommunikation.com